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  • AutorenbildJ.-G. Heurteloup

Mit Hut und Stock

Aktualisiert: 3. Okt. 2021


Von Christian Robardey-Tanner


Einigen aufmerksamen Zuschauerinnen und Zuschauern wird nicht entgangen sein, dass der sich bei Frau Reeves zu spät zum Teetisch einfindende Heurteloup Hut und Handschuhe neben seinen Stuhl auf den Teppich legt, bevor er seine Teetasse entgegennimmt. Darauf hat eine unserer französischen Zuschauerinnen reagiert:


“[S]i je peux me permettre; je suis surprise que Monsieur pose son chapeau par terre lorsqu'il s'installe ? Est-ce que c'était l'usage ?”

"Wenn ich mir diese Bemerkung erlauben darf: Es erstaunt mich, dass der Herr beim Platznehmen seinen Hut auf den Boden legt. Entspricht dies den damaligen Gepflogenheiten?"


Die Frage schien uns berechtigt: Tat Heurteloup im Jahr 1793 recht daran, seine persönlichen Effekte ungefragt auf dem Perserteppich seiner Gastgeberin zu deponieren? Um eine Antwort auf diese gewichtige Frage geben zu können, mussten Quellen her. Aber welche?


Glücklicherweise gibt es seit Googlebooks zahlreiche Digitate, die sich für eine korpuslinguistische Analyse eignen. Wie immer verdanken wir den bildenden Künsten weitere Informationen. Dabei haben wir eine Eingrenzung vorgenommen: Da die Theetischszene um 1793 spielt, sollten nur jene Quellen in Betracht gezogen werden, welche zehn Jahre davor und danach erschienen sind, und zwar vorzugsweise deutschsprachige. Dabei haben wir verschiedenste Textgattungen – von der Zeitung, über den Roman bis zum Drama – berücksichtigt, wohl wissend, dass sich gerade in der Literatur, welche ihre Zeitgenossen abbildet, oftmals wertvolle Hinweise verbergen, über welche sich die einschlägigen Benimmbücher[1] – leider – für einmal ausschweigen.


Die Durchsicht des Quellenmaterials führt zu folgenden vorläufigen Ergebnissen:


Erstens können wir drei verschiedene soziale Interaktionsrahmen definieren, in denen der Umgang mit Hut und Stock in Bezug auf unseren Teetisch von 1793 eine Rolle spielen:


a) Der Besuch bei Bekannten, wo nur wenige Personen anwesend sind

b) Der Besuch von grösseren Assembleen

c) Das Frühstück unter freiem Himmel in Gesellschaft von sozial Gleichgestellten.


Zweitens zeigt der Vergleich des deutschen Quellenmaterials mit der einzigen französischen Benimmbuchquelle, die uns für die oben definierte Zeitspanne überhaupt Auskunft geben kann, dass es einen kulturellen Unterschied zwischen Frankreich und Deutschland gegeben haben MAG. Denn in ALLEN deutschen Quellen besteht die erste Handlung des Gastes beim Eintritt in die Gesellschaft darin, seinen Hut und Stock abzulegen. Der Franzose Dubroca aber schreibt:


Se hâter, dès qu’on est entré de se débarrasser de sa canne, de son chapeau, de son manteau sur le premier meuble qui s’offre, c’est en agir comme on ferait chez soi. […] Votre entrée a fait lever tous ceux qui étaient dans l’appartement. Le maître de la maison se rassied; chacun s’assied successivement; vous êtes assis vous-même, le corps droit, les jambes placées l’une à côté de l’autre, votre chapeau, votre canne à la main: vous pouvez vous flatter d’avoir rempli le premier acte de la visite avec toutes les bienséances communes.”[2]


Man handelt, als befinde man sich bei sich zu Hause, wenn man sich eilt, kaum ist man eingetreten, auf dem erstbesten sich darbietenden Möbel sich seines Stockes, seines Hutes und Mantels zu entledigen. […] Ihr Erscheinen hat jedermann, der sich in der Wohnung befindet, dazu genötigt, sich zu erheben. Der Herr des Hauses setzt sich, wobei ein jeder nacheinander seinem Beispiel folgt. Schliesslich haben Sie selbst Platz genommen : Ihr Körper ist aufrecht, Ihre Beine sind parallel, Ihren Hut und Stock halten Sie in Händen. Glückwunsch : Sie haben die erste Handlung bei einem Besuch mit all seinen Gepflogenheiten erfolgreich gemeistert.


Berücksichtig man jedoch zusätzlich die zeitgenössische französische Ikonographie, erscheint diese Aussage brüchig. So befindet sich der Hut des Gastes nicht nur in dessen Hand sondern auch am Boden.


Michel Garnier, 1794. Der Besucher wird von seiner Geliebten offenbar abgekanzelt, weil er zu spät kommt. Ob er unter diesen Umständen noch eine Tasse Tee angeboten bekommt? Quelle: https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/1/13/Sc%C3%A8ne_de_reproches.jpg

Französische Schule, La famille de Saxe, Quelle: http://www.sothebys.com/en/auctions/ecatalogue/2016/tableaux-sculptures-dessins-anciens-xix-siecle-pf1609/lot.50.html Das männliche Familienmitglied, das sich zum Tee eingefunden hat, trägt Hut und Stock noch in der Hand. Was aber wird gleich passieren, wenn ihm seine Schwester einen Tee einschenkt?

Louis-Marin Bonnet, 1789, Le Déjeuné, Quelle: https://i.pinimg.com/originals/91/c9/2e/91c92e198d6bb56351e4d2451ffdd4af.jpg Das Kupfer ist keine Karikatur. Dass der junge Mann am Frühstückstisch Hut und Stock auf dem Boden deponiert hat, ist wohl nicht allein dem Schock geschuldet, dass der anwesende Junge der Tischnachbarin das Kleid ruiniert hat.

Anonym im Umkreis von Mallet, Ende 18. Jh., Quelle: https://www.google.com/search?q=Mallet+1790&source=lnms&tbm=isch&sa=X&ved=0ahUKEwjKm-Hal-_jAhUwxqYKHTxhBMIQ_AUIECgB&biw=1280&bih=638#imgrc=0OneqVwiyomZ6M:

Adrien Godefroy, 1800, Le Thé parisien, Quelle: https://2.api.artsmia.org/full/75994.jpg Die um den Teetisch versammelten Herren tragen ihren Hut unter dem Arm. Was werden sie jedoch damit tun, sobald oder sofern ihnen ein Platz am Teetisch selbst eingeräumt werden sollte? Keiner der Herren scheint wegen des Teetrinkens selbst gekommen zu sein.

Le Déjeuner, gravure de la série "Le Bon Genre" (1802), Quelle: https://www.britishmuseum.org/research/collection_online/collection_object_details/collection_image_gallery.aspx?assetId=100618001&objectId=1341264&partId=1 Die Karikatur denunziert wohl das Benehmen der Neureichen, die sich ungebührlich mit dem Ellenbogen auf der Tischplatte aufstützen. Wird jedoch auch der Hut auf dem Boden selbst zur Zielscheibe der Kritik?

Was könnte also die Erklärung für den Widerspruch zwischen beschriebenem Ideal und Praxis sein? Wohl der Kontext. Handelt es sich bei Dubroca um eine reine und vor allem kurze Höflichkeitsvisite, bei der dem Gast a priori nichts zu essen und trinken angeboten wird, zeigen die Darstellungen von Bonnet und Le bon genre Szenen, in denen die Interaktanten offenbar einen vertrauten Umgang miteinander pflegen. Zudem sind die Herren beim Frühstück wohl sehr froh, dass sie Ihren Hut beim Manövrieren der Tassen nicht auch noch in der Hand halten müssen und auch ihre Knie davon befreit bleiben.


Sehen wir uns die deutschen Quellen an, so stellen wir im Umgang mit dem Hut und Stock folgende MÖGLICHE Umgangsmuster fest:


1. Ein Familienmitglied nimmt dem Hausvater Stock und Hut ab.[3]

2. Ein Mitglied der Gesellschaft nimmt dem Gast Hut und Stock ab.[4]

3. Der eigene Diener nimmt dem Gast Hut und Stock ab.

4. Ein Domestik des Hauses nimmt dem Gast Hut und Stock ab.

5. Der Gast selber legt Hut und Stock an den Platz seiner Wahl.


Für den ersten und zweiten Fall haben wir nur jeweils einen einzigen Beleg gefunden. Anders sieht es für die drei weiteren Fälle aus, die wir deshalb im Einzelnen näher beleuchten wollen.

Im Journal von und für Deutschland findet sich ein bezüglich der Hutfrage höchst aufschlussreicher Artikel. Diesen geben wir wenigstens auszugsweise wieder:


Bey grossen Assembleen und Gastmahlen ereignet es sich oft, dass nicht nur Hüte und Stöcke verwechselt werden, sondern auch, dass, wenn der, so anstatt seines eigenen Huts und Stocks mit einem schlechten nach Haus gehen musste […] den Verlust […] verschmerzen muss. […] Viele machen es sich zur Regel, jederzeit den schlechtesten Stock oder Hut, den sie nur haben, mit sich in grosse Gesellschaften zu nehmen, damit sie auf alle Fälle keinen grossen Verlust leiden können, aber wie übel stimmt dies mit dem übrigen Anzuge des zu Gaste gehenden überein! Andere geben, nach gemachten Eintrittscomplimenten , Hut und Stock nicht an die Bedienten des Hauses ab, sondern stellen ihre Sachen selbst an einen Platz, den sie wohl merken[5] […]. Wieder andere geben, nach gemachten Complimenten, Hut und Stock ihrem eigenen Bedienten […]. Viele empfehlen ihre Hüte und Stöcke dem abnehmendem Bedienten […]. Hat dann der Hausherr ein eigenes Zimmer zur Niederlage für Hüte und Stöcke bestimmt, das verschlossen halten wird, so ist Irrungen und Diebereyen schon so ziemlich abgeholfen.[6]


Den Autor des Artikels befriedigen jedoch keine der von ihm beschriebenen Gepflogenheiten und so schliesst er:


Man bediene sich allgemein solcher Chapeaubas=Hüte, die man in die Taschen stecken kann, und lasse die Stöcke zu Hause, so hat man beym Weggehen kein mühsames Suchen […]. Vielleicht ist das Journal des Luxus und der Moden (das überhaupt von herrschenden Etiketten in Gesellschaften zu wenig sagt)[7] im Stande, dieses Problem auf eine glücklichere Art zu lösen. In Gesellschaften muss man ganz ohne Sorgen seyn, wenn man vergnügt seyn soll; wie kann man aber vergnügt seyn, wenn man um Hut und Stock in Verlegenheit ist?[8]


Der Artikel zeigt auf, wie vielseitig in grösseren Gesellschaften der Umgang mit dem eigenen Hut und Stock um 1791 in grösseren deutschen Gesellschaften offenbar war. Ganz eindeutig geht daraus aber auch hervor, dass kein Gast seinen Hut und Stock während seines Aufenthalts in der Hand behält!

Doch wie steht es nun mit Heurteloup, der sich bei Frau Reeves ja in einer ganz kleinen Gesellschaft befindet und als einziger Herr nicht um den Verlust seines Hutes bangen muss? Tut er recht daran, seinen Hut auf dem Boden neben sich zu platzieren oder sollte er sich dafür einen anderen Platz aussuchen oder gar darauf hoffen, dass Frau Reeves ihm diesen abnimmt?

Sehen wir uns die restlichen Quellen an, indem wir sie einer Kontextanalyse unterziehen, können wir folgende Schlüsse ziehen:


1. Der Platz, an den ein Mann seinen Hut und Stock legt, wird in keinem der Fälle genannt.


2. Hut und Stock bleiben in allen Fällen in der nächsten Reichweite des Besitzers, so dass er in jeder Lage (Abschied, überstürztes Verlassen des Zirkels infolge eines Konfliktes z.B.) sich frei zurückziehen kann.[9] Die beiden Attribute fungieren gleichsam als Verlängerung seiner eigenen Person.


3. Der Herr kümmert sich immer selber um seinen Hut und Stock, auch dann, wenn ein Gastgeber oder eine Gastgeberin oder sogar ein Hausdiener (!)[10] anwesend ist und dies für ihn besorgen könnte. Es gehört zum guten Ton, den Gast darum zu bitten, seine Sachen abzulegen, nicht aber zwingend sich selbst darum zu kümmern.[11]


Unsere konsultierte Quellengrundlage ist ausbaufähig und schnell gesichtet. Dennoch erlaubt sie folgende Schlüsse im Umgang mit dem Hut in deutschen Gesellschaften um 1793:


- Der Herr legt Hut und Stock weg, wenn er sich in Gesellschaft begibt.


- In der Regel entscheidet er selber, wo er seinen Hut und Stock ablegt, diese bleiben aber in seiner unmittelbaren Nähe. Warum nicht auf dem sauberen Perserteppich einer Frau Reeves?


- In grossen Gesellschaften ist seine erste Priorität, dass er Stock und Hut in Sicherheit weiss. Wie er dabei vorgeht, ist ihm allein überlassen (Diener, Platz seiner Wahl), sofern der Gastgeber nicht die Initiative ergreift. Der Hut-und Stockbesitzer trägt allein das Diebstahlrisiko.


Worüber Mann oder Frau sich also beim Reevschen Theetisch wundern kann, ist wohl weniger der Platz, an dem Heurteloup seinen Dreispitz ablegt, sondern vielmehr, dass er ohne Stock der Einladung gefolgt ist. Den hatte er schlichtweg zu Hause liegen gelassen. Und darüber war er nicht sonderlich stolz, denn er hängt sehr an seiner Badine und fühlte sich etwas unvollständig an jenem Tag.


BÄRENSPRUNG, Wilhelm, Neue Monatsschrift von und für Mecklenburg. Achter Jahrgang. 1stes und 2tes Stück. Januar und Februar, 1799, S. 128.


BECK, Heinrich, Rettung für Rettung, Ein Original-Schauspiel in fünf Aufzügen, Friedrich Esslinger, Frankfurt, 1801, S. 103.


BIBRA, Sigmund von, Journal von und für Deutschland, 1791. Eilftes Stück, XII, Vorschlag, wie einer Art von honnettem Diebstahl vorzubeugen seyn möchte, Frankfurt am Main, S. 975 – 978.


DUBROCA, Louis, Le ton de la bonne compagnie ou règles de la civilité A l’usage des Personnes des deux sexes, chez Rondonneau, Paris, 1802.


GRAF VON LIMBERG, G.F., Der Deutsche Diogenes oder der Philosoph nach der Mode, Johann Georg Edlen von Rösle, Wien, 1792.


JÜNGER, Johann Friedrich, Huldreich Wurmsamen von Wurmfeld, Dykische Buchhandlung, Leipzig, 1787, S. 43.


LAFONTAINE, August, Rudolf und Julie. Ein Gemälde des menschlichen Herzens, Berlin, 1802.

SCHAZ, G., Des Herrn C. Goldoni Beobachtungen in Italien und Frankreich. Ein Beitrag zur Geschichte seines Lebens und Theaters, Dykische Buchhandlung, Leipzig, 1789. S. 488.


SCHILLER, Friedrich, Kabale und Liebe, Ein bürgerliches Trauerspiel in fünf Aufzügen, zweite Auflage, J. A. Imhoffsche Buchhandlung, Leipzig und München, 1788.


STEINBERG, Carl, Menschen und Menschen Situationen oder die Familie Grunau. Ein Schauspiel in fünf Aufzügen, 1792.

[1] Normalerweise erweisen sich für die Begrüssunsgsrituale um 1800 Kattfuss und Wenzel als ergiebige Anlaufstellen, allerdings nicht, was die obige Frage anbelangt.

[2] DUBROCA, Louis, Le ton de la bonne compagnie ou règles de la civilité A l’usage des Personnes des deux sexes, chez Rondonneau, Paris, 1802, S. 99 – 100.

[3] LAFONTAINE, August, Rudolf und Julie. Ein Gemälde des menschlichen Herzens, Berlin, 1802, S. 11.

[4] GRAF VON LIMBERG, G.F., Der Deutsche Diogenes oder der Philosoph nach der Mode, Johann Georg Edlen von Rösle, Wien, 1792, S. 129.

[5] Eigene Hervorhebungen.

[6] BIBRA, Sigmund von, Journal von und für Deutschland, 1791. Eilftes Stück, XII, Vorschlag, wie einer Art von honnettem Diebstahl vorzubeugen seyn möchte, Frankfurt am Main, pp. 975 – 977.

[7] Eigene Hervorhebungen.

[8] Ebd., S. 977 – 978.

[9]LAFONTAINE, August, Rudolf und Julie. Ein Gemälde des menschlichen Herzens, Berlin, 1802, S. 44, S. 109.

[10] S. STEINBERG, Carl, Menschen und Menschen Situationen oder die Familie Grunau. Ein Schauspiel in fünf Aufzügen, 1792, S. 23.

[11] S. STEINBERG, Carl, Menschen und Menschen Situationen oder die Familie Grunau. Ein Schauspiel in fünf Aufzügen, 1792, S. 3.

SCHILLER, Friedrich, Kabale und Liebe, Ein bürgerliches Trauerspiel in fünf Aufzügen, zweite Auflage, J. A. Imhoffsche Buchhandlung, Leipzig und München, 1788, S. 9, S. 12: Miller bittet Sekretär Wurm darum, «abzulegen», es ist aber Wurm selbst, der dies tut und am Ende seines Besuches Hut und Stock von sich aus wieder an sich nimmt.

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