Von Christian Robardey-Tanner
Wie Heurteloup zum Tschöpli kam
An unser letztes informelles Vereinstreffen brachte Eliane zwei Berner Tschöpli aus der Zeit um 1900 mit. Das Kleidungsstück gehört nach heutigen Begriffen zur sogenannten Tschöplitracht, die im Bernbiet zum Kirchgang und zu Feierlichkeiten getragen wird. Diese Tracht besteht HEUTE aus folgenden Komponenten:
1. Ein Leinenhemd, das entgegen einer Bürgerinnenchemise hochgeschlossen und kragenlos getragen wird.
2. Ein Unterrock und lange Unterhosen
3. Ein schwarzer Woll- oder Seidenrock
4. Eine Seidenschürze
5. Ein Göller – ein Kragen – der heute über der Schulter getragen wird.
6. Eine versteifte Korsage mit langen Ärmeln, deren Schneppe über der Schürze und über dem Göller getragen wird.
7. Ein silbernes Ghänk[1], das vorne mit zwei Silberbroschen und hinten im Kreuz fixiert getragen wird.
8. Eine schwarze Samthaube mit langen Seidenbändern und geklöppelten Rosshaarspitzen
Die zwei von Eliane mitgebrachten Tschöpli konnten wir zusammen mit Alessandra einer genauen Analyse unterziehen. Und danach stand für mich fest: 1. Ich will wissen, wo der Ursprung dieses schönen Kleidungsstücks liegt. 2. Ich will dieses Kleidungsstück nachnähen, und zwar nach den Nähtechniken des 18. Jahrhunderts.
Elianes Berner Tschöpli um 1900: Ein Nebeneinander von 1790, 1830, 1880 und 1900
Beide Tschöpli weisen einen dreiteiligen Futterschnitt auf (Rückenfutter, zwei Frontteile). Alle Schnittteile verlaufen im geraden Fadenlauf. Bei Modell A handelt es sich um ein handgewebtes mi-fil Baumwoll-Leinengewebe, Modell B wurde aus einer maschinengewobenen Baumwolle hergestellt[2]. Das Rückenteil weist zudem im Futter Abnäher auf (Modell A ein vertikaler Abnäher verlaufend zwischen dem ersten und dem vierten Brustwirbel, Modell B zwei handbreite horizontale Abnäher auf Höhe der Schulterblätter). Das Rückenteil ist mit zehn[3] (Modell A) und sechs (Modell B) von der Taille bis zur Rückenmitte reichenden Fischbeinstäben versteift. Die Schneppenfront ist mit zwei parallel verlaufenden Fischbeinstäben und mit fünf (Modell A) bis sechs (Modell B) diagonal angeordneten versteift. Alle Fischbeinkanäle wurden mit Maschine genäht. Das Fischbein sitzt eher locker darin. Die Seitennähte wurden bei Modell A mit dem beidseitigen Saumstich verarbeitet. Bei Modell B erfolgte die Maschinennaht durch Futter und Oberstoff, wurde dann plattgebügelt und mit Saumstichen aufs Futter fixiert. Beide Schneppen werden mit Haken und Ösen geschlossen (Modell A dreizehn, Modell B zwölf). Der Oberstoff besteht bei beiden Modellen aus schwarzem Seidendamast. Dieser wurde über das Futter doppelt eingeschlagen und mit Saumstichen aufs Futter fixiert. Eine von der Korsagenkante in einem Abstand von 2 mm durch Oberstoff, Futterstoff und eingeschlagenen Oberstoff verlaufende Maschinennaht sorgt für flachliegende Kanten. Die handknochenlangen, zweiteiligen Ärmel sind rund geschnitten und über der Armkugel als Puffärmel in Falten gelegt. Sie sind bei Modell B mit Maschinennähten, bei Modell A mit Rückstichen ins Armloch eingesetzt. Die offenen Nahtzugaben wurden bei beiden Modellen mit überwindlichen Stichen fixiert.
Beide Schösschen sind angesetzt. Oberstoff und Futter der Schösschen sind gestürzt verarbeitet. Bei Modell A wurden die Schösschenkanten mit der Maschine durch eine weitere Naht flachgenäht. Beide Schösschen wurden durch die mit der Maschine abgesteppte Taillenkante des Oberstoffs angenäht. Auf der Futterseite wurde diese Naht mit einem eingeschlagenen Streifen Seidenbrokat mittels Saumstichen versäubert. Der Oberstoff beider Tschöpli weist im Rückenteil zwei maschinengesteppte Nähte auf, die von aussen eine funktionale Rückennaht vortäuschen. Beide Tschöplimodelle weisen über Schösschen und quer von der HM zur VM hin verlaufende schwarze Spitzenapplikationen auf. Diese verlaufen ebenfalls um Hals und Brustausschnitt. Beide Modelle haben einen angesetzten Schulterriemen. Dessen Nähte verlaufen auf der Höhe des Schlüsselbeins und der Brust.
Was am Tschöpli von 1900 behalten wir für die Rekonstruktion für ein Tschöpli um 1790?
Wenn wir die zwei analysierten Tschöpli mit ihren Eigenheiten und als Produkt verschiedener Modeentwicklungen untersuchen, können wir vor dem Hintergrund der Mode des 18. Jahrhunderts folgende Bilanz ziehen.
Schnitt:
Korsage:
Die Linienführung auf der Tschöplikorsage entspricht dem Grundschnitt einer robe à l’anglaise: Tiefe Schneppe, ein Rückenteil, das sich auf Höhe der Ärmel zur HM der Taille hin verjüngt, äusserliche Dreiteilung in Rückenteil, Seitenteil und Schneppenteil.
Ärmel:
Die rund geschnittenen Ärmel
Schösschen:
Normalerweise werden im späten 18. Jahrhundert Schösschen und Rückenteil aus einem Stück Stoff zugeschnitten. In der Ausgabe des Journal des Luxus und der Moden vom August 1793 sind aber angesetzte Schossteile für Caracos bezeugt[4]. Das Berner Tschöpli lässt sich also als eine Unterform des Caracos bezeichnen. Die angesetzten Schösschen sind zudem eine nachgewiesene Variante der Mode des späten 18. Jahrhunderts.
Verarbeitung:
Die Verwendung des beidseitigen Saumstichs für Seitennähte.
Bloss mit überwindlichen Stichen versäuberte Ärmelnahtzugaben, die Wahl des Rückstichs für das Einsetzen der Ärmel als eine Möglichkeit der Umsetzung.
Was nicht ins 18. Jahrhundert gehört und einer Umgestaltung bedarf:
Korsagenfront: die geschwungene Front des Tschöplis zeigt das Kleidungsstück erst seit den 1830er Jahren, davor verläuft der Ausschnitt des Tschöplis wie bei jedem Damenkleid des späten 18. Jahrhunderts rund.
Futterkonstruktion: Das 1900 Tschöpli besteht nur aus drei Schnittteilen. Eine Korsage des späten 18. Jahrhunderts jedoch besteht aus vier, sechs oder acht Futterschnittteilen, wobei sehr oft Oberstoff und Futterstoff in einem Arbeitsgang mit gegeneinander eingeschlagenen Nahtzugaben mit dem beidseitigem Saumstich verarbeitet werden[5]. Für meine Schnittkonstruktion wähle ich einen sechsteiligen Schnitt. Vergleichbare spanische Tschöpli aus dem späten 18. Jahrhunderts sind vierteilig. Dies entspricht der Mode um 1790, die auch für die sehr späten Anglaisen gilt. Konservativere Anglaisenschnitte bestehen jedoch aus sechs Teilen. Diese Schnittführung wiederum entspricht ziemlich genau jener des Oberstoffs der beiden untersuchten Tschöpli. Dies hat aber zur Folge, dass der heute typische einteilige Tschöplirücken einer Zweiteilung unterzogen wird. Einteilige Rücken tauchen im späten 18. Jahrhunderts nämlich erst zusammen mit der hohen Taille des französischen Directoires auf[6]. Der Grund, weshalb ich mich trotz dieses Nachweises für einen zweiteiligen Rücken entscheide, ist der, dass einteilige Rücken 1794 erst von ganz wenigen städtischen modebewussten Frauen getragen wurden. Zudem finden sich noch bis 1796 bei bereits hoher Taille zweiteilige Korsagerücken[7]. Zuerst dachte ich, dass die Konstruktion der Schulterriemen ebenfalls einer Anpassung bedürfe. Bei beiden untersuchten Tschöpli verlaufen diese zwischen Schlüsselbein und Brustmitte, wobei das Schnittteil aus einem Rechteck besteht. Im 18. Jahrhundert hingegen wird der trapezförmige Schulterriemen schräg unterhalt der Schulter angenäht. Dies wiederum verändert die Form der Rückenteile. Allerdings zeigen spanische Korsagen aus dem späten 18. Jahrhundert mit hohen Rückenteilen genau solche Schulterriemen, wie sie bei den beiden Tschöpli zu beobachten sind[8].
Die Anordnung der Fischbeinstäbe im Rückenteil. Für das späte 18. Jahrhundert verlaufen die Fischbeinstäbe entlang der Rückennähte und nicht mitten im Futterteil. Es sei denn, es handle sich um eine vollversteifte Schnürbrust. Dies ist beim Tschöpli nicht der Fall. Spanische Caracomodelle um 1790, welche für die Trägerin gleichzeitig als Schnürbrust dienen, wie dies beim Tschöpli der Fall ist, sind in den Rücken- und Seitenteilen - wenn überhaupt – nur entlang der Nähte mit Fischbein versteift[9]. Diese Verarbeitungstechnik lässt sich ansatzweise noch anhand der ehemaligen Naht bei Modell A bei den Seitennähten nachweisen.
Die Puffärmel: Zwar sind auch noch im 18. Jahrhundert über der Armkugel gefältelte Ärmel keine Seltenheit. Der Ärmel wird jedoch in diesem Fall nicht mit Rückstichen eingesetzt, sondern die Falten werden nach einer Sandwichtechnik zwischen Schulterriemenfutter und Schulterriemenoberstoff fixiert. Dinkels Tschöplis zeigen jedoch faltenlose, über der Armkugel glatt anliegende Ärmel. Diese waren um 1790 auch in Paris Mode.[10] Wie spanische Caracomodelle aus der Zeit um 1790 zeigen, sind auch andere Verarbeitungsvarianten möglich: so können die Ärmelnähte etwa mit dem beidseitigen Saumstich verarbeitet werden und mit demselben Stich ins Ärmelloch eingefügt werden. Diese Technik hat die Spanierin Ruth Cerrillo erfolgreich bei ihrer spanischen – dem Berner Tschöpli verwandten (!) – Tracht angewandt[11].
Verarbeitung: Im 18. Jahrhundert wird die eingeschlagene Nahtzugabe des Oberstoffs in der Regel gegen die eingeschlagene Nahtzugabe des Futters vernäht. Dass der Oberstoff der Korsage aber auch um den Futterteil von Schneppe und Dekolleté doppelt eingeschlagen werden kann, zeigen spanische Caracos aus der Zeit um 1790.
Bei den beiden Tschöplis um 1900 verlaufen die Fischbeinstäbe im Schneppenteil diagonal und die Front wird mit Haken und Ösen geschlossen. Der Schneppenteil verläuft im geraden Fadenlauf. Bei den spanischen Modellen um 1790 ist der Schneppenteil ebenfalls im geraden Fadenlauf geschnitten. Die Fischbeinstäbe verlaufen allerdings fünf Finger breit parallel zur VM, bevor sie diagonal angeordnet sind. Die Front weist zudem eine Schnürung auf. Deren Schnürlöcher können entweder durch den Oberstoff verlaufen oder nur durch das Futterteil. Dafür, dass die um 1900 zu beobachtende diagonale Anordnung der Fischbeinstäbe auch im 18. bei Caracos mit integrierte Schnürbrustfunktion möglich war, finde ich keine Belege. Allerdings gibt es unzählige Schnürbrustmodelle aus dem späten 18. Jahrhundert, welche im Schneppenschnittteil eine diagonale Anordnung der Fischbeinstäbe aufweisen[12]. Viele dieser Schnürbrustmodelle verfügen zudem über vertikal verlaufende Stäbe, welche für eine Rundung des Busens sorgen und ein Brechen der Fischbeinstäbe verhindern. Dies ist auch bei den spanischen Caracos zu beobachten. Für die Tschöplirekonstruktion habe ich deshalb die noch heutige diagonale Anordnung der Fischbeinstäbe beibehalten und gleichzeitig horizontale Streben angebracht.
Die Dekoration: Bei beiden 1900 Tschöpli verlaufen maschinell hergestellte schwarze Spitzenapplikationen von den Schösschenkanten entlang der Rückennähte des Oberstoffes bis zur VM und von da aus um Dekolletee und Halsausschnitt. Bei Dinkels Darstellungen sind anstelle der Spitzenapplikationen solche aus schwarzen Bändern oder schwarzem Stoff (Samt? Taft?) zu beobachten, auch Fotografien aus dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts zeigen, dass diese Art der Applikation immer noch in Gebrauch war. Ob diese im Nacken ebenfalls in eine Spitze münden, wie das bei den untersuchten Modellen der Fall ist, zeigen Dinkels Darstellungen nicht.
Und was ist bei allem Gesamteuropäischem überhaupt typisch Bernisch am Tschöpli?
Die schwarzen (Samt)bänder, mit denen das Göller und der Ausschnitt des Tschöplis eingefasst sind. Diese Eigenheit ist bei allen Schweizer Landtrachten zu beobachten und hält sich als Konstante in allen Bildzeugnissen des 18. und 19. Jahrhunderts.
Das Göller. Allerdings liegt dieses bis um 1830 nicht wie heute auf den Schultern, sondern gleicht einem enganliegenden Stehkragen. Diese Eigenheit muss bei der Tschöplitrachtrekonstruktion eine besondere Berücksichtigung erfahren. Denn sie zeichnet ALLE Darstellungen von Schweizer Trachten zwischen 1770 und 1820 aus.
Das Ghänk. In der Tat sind die am Göller mit Silberbroschen befestigten Silberketten seit der frühesten Darstellung von Berner Trachten des 18. Jahrhunderts nebst dem Göller ein Erkennungsmerkmal. Wie die alten Schnyderfilme zeigen, wird das Ghänk bei der Tschöplitracht im Kreuz befestigt. Was auf Reinhards Gemälden auffällt, ist, dass die Ketten sich im Gegensatz zu heute enger um die Achselhöhle schmiegen, also kürzer waren.
Praktischer Teil
Ich hatte von den Schneppen der 1900 Tschöpli den Schnitt abnehmen können. Zudem verfügte ich über den von mir gefertigten Schnitt von Mère Heurteloups pet-en-l’air. Auf dieser Grundlage konnte ich den Schnittverlauf für die 1790 Tschöpliversion schrittweise nachvollziehen.
Als erster glich ich die Schneppe des pet-en-l’air der Tschöplischneppe an und liess die Wölbung des Tschöplidekolletees weg. Bei der Zeichnung des Rückens kombinierte ich den Schnitt der spanischen Korsage von 1790 mit den Dimensionen des pet-en-l’air-Rückens. Und dabei unterlief mir der Überlegungsfehler, dass der Tschöplirücken wesentlich länger sein muss als jener des pet-en-l’air, er verläuft nämlich bis zum ersten Brustwirbel.
Davon, dass die Schneppenfront Mère Heurteloup passen würde, war auszugehen. Deshalb ging ich das Wagnis ein, dieses Schnittteil bereits ganz von Hand mit Ratan und Stahlband zu versteifen. Als Stiche verwendete ich einerseits den Vorstich[13] als auch den spaced back stitch. So ging die Arbeit ziemlich zügig von der Hand. Das Schneppenschnittteil verarbeitete ich mit gegeneinander eingeschlagenen Nahtzugaben, was zu einem sauber verarbeiteten Futter führt, wie es etliche Schnürbrüste der Zeit zeigen.
Für die erste Anprobe nähte ich die Schnittteile mit provisorischen überwindlichen Stichen zusammen. Nur die Seitennähte steckte ich mit Stecknadeln zusammen, weil ich davon ausging, dass ich an dieser Stelle den Schnitt verbreitern werden müsste. Die Schneppenfront versah ich mit grob angenähten Haken und Ösen.
Bei der Anprobe stellte sich in der Tat heraus, dass die Korsage etwas zu eng war. Ein schrittweises Verbreitern um je 0.7 mm brachte der Trägerin mehr Tragekomfort und ermöglichte ein einfacheres Schliessen des Mieders, das davor fast nicht möglich war. Als unangenehm beanstandete Mère Heurteloup, dass das Schnitteil b sich in die Taille einschneide. Mit dem Fingernagel zeigte sie an, wo die Linie zu verkürzen sei. Beim Vergleich des mit Hilfe der Trägerin signalisierten Taillenverlaufs mit jenem der spanischen Korsage[14] zeigt sich, dass auf Höhe der Nieren in der Tat eine geschwungene Linie zu beobachten ist. Bei der Anprobe fiel mir auf, dass der Rücken viel zu tief sass und um ganze vier Finger breiter verlaufen musste. Leider bemerkte ich erst bei Betrachtung von Kleiderrücken, die auf 1794 datiert sind, dass die Linie des Schnittteils A infolge dieser Verlängerung viel steiler verlaufen muss und nähte deshalb zuerst zwei neue nutzlose Schnittteile b. Nach Anpassung des Schnittverlaufs von Schnittteil A nähte ich dann eine dritte Version der Schnittteile B. Ebenso fügte ich in Schnittteil B weitere Fischbeinstäbchen aus Kabelbinden ein, da bei der Anprobe deutlich geworden war, dass sich ohne diese Versteifung unerwünschte Falten bilden.
Bei der zweiten Anprobe zeigte sich, dass das Tschöplifutter endlich den gewünschten Sitz erreichte hatte. Die Ärmel drapierte ich direkt an Mère Heurteloup. Da Le Brun in seinem Journal de la mode et du gout für das Jahr 1790 immer wieder betont, wie eng die Ärmel von Herren und Damen getragen werden[15], habe ich mir erlaubt, die Ärmel enger zu schneiden, als dies bei den zwei analysierten Tschöpli der Fall war. Heutige Tschöpli kommen ohne Knopflöcher an den Ärmeln aus. Ein vergleichbares (allerdings unversteiftes) Caracojäckchen der Sammlung Hüpsch besteht aber aus genau solchen Ärmeln. Bei der Konstruktion der Ärmel habe ich mich an diesem Original orientiert[16]. Bei der Konstruktion des Schösschens habe ich mich hingegen ganz an Bertuchs Vorlage gehalten, wobei ich es wegen der kleinen Körpergrösse des Modells eingekürzt habe.
Nachdem ich den Oberstoff für das Tschöpli zugeschnitten hatte (1 Meter reichte hierfür aus), habe ich diesen mit Vorstichen auf jene Futterkanten genäht, welche nicht mit anderen Schnittteilen vernäht werden mussten. Bei allen anderen Kanten habe ich den Oberstoff auf den Futterstoff geheftet. Auf diese Weise konnte ich die so einzeln fertig verarbeiteten Schnittteile mit dem beidseitigen Saumstich zusammenfügen. Leider ergab eine dritte Anprobe, dass die Schneppenfront etwas aufklaffte, weil ich die Ösen um einen Millimeter zu weit an der VM angebracht hatte. Ich musste deshalb den Oberstoff entlang der VM wieder vorsichtig vom Futter trennen, um die Ösen versetzen zu können. Doch auch bei der vierten Anprobe klaffte die Tschöplifront immer noch auf. Erst jetzt nahm ich mir die Zeit, die beiden Tschöplioriginale von 1900 auf die Anordnung der Haken und Ösen genauer zu betrachten. In der Tat lässt sich bei Modell A beobachten, dass die Haken und Ösen zur VM elliptisch angeordnet sind. Um diesen Verlauf zu ermitteln, mass ich die einzelnen Abstände bei jeder Öse, um zu wissen, um wie viele Millimeter ich an den einzelnen Stellen Ösen und Haken zu versetzen hatte. Was die Schulterriemen angeht, so habe ich den Irrtum begangen, diese nach der dritten Anprobe bereits mit dem Oberstoff verarbeitet einzusetzen. Bei einer vierten Anprobe zeigte sich jedoch, dass sie immer noch zu lang waren. In der Folge musste ich sie auf Brusthöhe wieder auftrennen und entlang der Dekolleteekante neu modellieren.
Bei den Ärmeln bin ich so vorgegangen, dass ich zuerst die Nahtzugaben der Futterteile umgebügelt habe und diese dann als Schablone und Orientierungshilfe bei der Ausrichtung des Oberstoffs verwendete. Deshalb habe ich auf eine Markierungen des Ärmeloberstoffs ganz verzichtet. Diesen habe ich mit eingeschlagenen Nahtzugaben auf die Futterteile geheftet. Danach habe ich zuerst die Knopflöcher gestickt, bevor ich die Ärmel mit dem beidseitigen Saumstich zusammengenäht habe. Beim Einsetzen der Ärmel merkte ich, dass sie über der Achsel etwas zu viel Weite hatten, weshalb ich sie an dieser Stelle etwas gerafft habe, um sie mit beidseitigen Saumstichen ins Ärmelloch einnähen zu können.
Das Göller habe ich in einer ersten Fassung bei der zweiten Anprobe im geraden Fadenlauf am Modell modelliert und war mit dem Ergebnis nicht zufrieden: Der Kragen wies Rümpfe auf. Ich habe mir dann überlegt, ihn im schrägen Fadenlauf zuzuschneiden und auch den Halsausschnitt wie bei einem Frackkragen rund zu schneiden. Bei der dritten Anprobe habe ich zuerst ein Modell aus Zeitungspapier geschnitten, das ich danach auf einen Probestoff übertrug. In der Tat fiel dann das Ergebnis befriedigend aus. Für die Endfassung des Göllers habe ich einen alten mi-fil Stoff zuerst mit Stärke behandelt, bevor ich ihn einmal trocken zuschnitt. Danach habe ich ihn an der HM zusammengenäht. Diese feste Krageneinlage belegte ich dann mit Stoffresten, die ich mit Punktstichen durch die Einlage fixierte. Das Kragenfutter aus einem Rest Baumwolle brachte ich erst an, nachdem ich den Kragen mit schwarzem Samtband eingefasst hatte. Danach nähte ich an der VM drei Haken und Ösen für den Verschluss an. Zwei Ösen an den Göllerecken brauchte es , um das Ghänk einhängen zu können.
Jetzt fehlten noch der Wollrock und eine passende Schürze.
Eine Darstellung einer Bäuerin half mir dabei, mich für eine Rockkonstruktion mit offener Front zu entscheiden. Ich schnitt den Merinowollstoff zuerst in vier fünfundsiebzig Zentimeter breite Bahnen. Diese nähte ich dann mit running back stitches zusammen. Ein Panel schlitzte ich entlang der VM bis zur Mitte auf, bügelte die Kante um und versäuberte sie mit einem schwarzen Seidenband.
Sieht man sich die Trachtenikonographie an, so lassen sich variable Rocklängen beobachten. In jedem Fall fällt auf, dass offenbar eine rote Blende als Schutz und Zierde des Rocksaums in Mode war.
Weil ich für das Tschöpli einen schwarzen Stoff mit roten Röschen gewählt hatte, war das für mich die Gelegenheit, die Farbe Rot in Form einer Seidenblende aufzugreifen. Das Aufnähen gestaltete sich mühsam, weil sich Seidentaft und Wolle unterschiedlich verhalten. Dies machte ein mehrfaches Auftrennen der oberen Blendennähte nötig, bis ich ein befriedigendes Resultat erreichte. Was die Schürze angeht, so wusste mir Alessandra eine Berner Textilhändlerin, die mir eine hundertjährige gestreifte Leinenschürze verkaufte. Passend zu den roten Röschen und dem roten Rocksaum finden sich darauf dezente rote Streifen. Auch die antike Samthaube mit der traditionellen Rosshaarspitze erstand ich in der Berner Gerechtigkeitsgasse. Das antike Ghänk verkaufte mir eine sympathische Bernerin aus dem Nachlass ihrer Tante.
Bibliographie
Primärquellen:
BERTUCH, Justus: Journal des Luxus und der Moden, August 1793, Weimar.
BERTUCH, Justus: Journal des Luxus und der Moden, März 1794, Weimar.
Sekundärliteratur:
ARNOLD, Janet: Patterns of Fashion 1. Englishwomen’s dresses and their construction c. 1660 – 1860, Macmillan, New York, 1984, Sigel POF1.
HEIERLI, Julie, Berner Trachten: von der Mitte des XVIII. Jahrhunderts bis zur Neuzeit, in: Zeitschrift der Schweizer Vereinigung für Heimatschutz, Heft 12, Bd. 3, 1908, pp. 89 – 95.
PIETSCH, Johannes, STOLLEIS, Karen: Kölner Patrizier- und Bürgerkleidung des 17. Jahrhunderts. Die Kostümsammlung Hüpsch im Hessischen Landesmuseum Darmstadt, Abegg-Stiftung, Riggisberg, 2008.
RASMUSSEN, Pernilla, Creating Fashion: Tailor’s and seamstresses’ work with cutting and construction techniques in women’s dress, c. 1750 – 1830, in: Fashionable Encounters. Perspectives and Trends in Textile and Dress in the Early Modern Nordic World, Mathiassen, Tove
Engelhardt et al. (Hrsg.) Oxbow Books, Oxford, 2014, pp. 49 – 71. Sigel CF
SWALLOW, Kelly Ann, Regency Fashion: Taking a turn through time. Volume 1 – gowns, Sylvestra Regency Fashion Collection 2015. Sigel RF
TIRAMANI Jenny, COSTIGLIOLO Luca: Patterns of Fashion 5. The content, cut, construction and context of bodies, stays, hoops and rumps c. 1595 – 1795, The School of Historical Dress, London, 2018. Sigel POF5
[1] Das Ghänk besteht aus zwei mehrsträngigen Silberketten, deren Enden vorne und hinten am Göller an Silberbroschen eingehängt werden und unter dem Arm durchführen.
[2] Materialanalysen von Alessandra Reeves
[3] Bei Modell A zeigen Nahtspuren und eine noch vorhandene Naht, dass ehemals entlang der Seitennaht vier weitere Fischbeinstäbe eingenäht waren, die bei einer späteren Umarbeitung entfernt wurden. Diese Praxis entspricht der Verarbeitung des 18. Jahrhunderts.
[4] Siehe JDLUDM1793, p. 441. Diesen wertvollen, für die Rekonstruktion entscheidenden Hinweis verdanke ich Sabine Schierhoff (http://kleidungum1800.blogspot.com).
[5] Wie RASMUSSEN in ihrem Artikel anschaulich darlegt, hängt die Verarbeitungstechnik nicht nur von regionalen Faktoren ab, sondern entspricht unterschiedlichen Techniken zwischen zünftigen Schneidern und frei arbeitenden Damenschneiderinnen. Siehe CF, pp. 62 – 64.
[6] Das erste in einem Modejournal dokumentierte Damenkleid, dessen Rücken aus einem Stück geschnitten ist, findet sich im JDLUDM1794, pp. 155 – 156. Ein Kleid, mit noch langer Taille und bereits einteiligem Rücken kenne ich aus der Sammlung von Cristina Barreto Lancaster. Dieses datiert die Besitzerin auf 1794.
[7] Siehe RF, p. 13-14, POF 1, p. 45, und Gallery of Fashion 1796.
[8] Siehe POF5, p. 115.
[9] Siehe POF5, p. 115, das spanische Tschöpli von Ruth Cerrillo: https://www.instagram.com/p/B3-PpWooCGi/
[10] Siehe Journal de la mode et du goût von Le Brun, 1790.
[11] Siehe das Original: https://www.instagram.com/p/B3-PpWooCGi/ und die Nacharbeitung: https://www.instagram.com/p/B3-G_AcICuA/
[12] Siehe POF5, Modelle 26 und 27, pp. 106 – 109.
[13] Siehe POF5, p. 91, p. 115.
[14] Siehe POF5, p. 115.
[15] Siehe Artikel: Un Caraco avec corset et jupon de 1790.
[16] KPUBD17J, pp. 340 – 347.
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