Von Christian Robardey-Tanner
Nein: Es war nicht meine Absicht, mich vor der Sommerpause mit den Berner Trachten um 1800 zu beschäftigen. Eigentlich hatte ich Lust auf ein Shooting mit Gabriela in ihrer Berner Dinkeltracht. Im März hatte ich die Schnürbrust dieser Berner Tracht auf ihre Figur genäht und sie hatte die Mühe auf sich genommen, dazu einen Rock mit passendem roten Vorstoss zu fertigen. Doch dann kam – Corona. Lock down. Geschlossene Geschäfte. Geschlossene Stoffläden. Stockender Onlinehandel. Stay at home.
Corona: Fokus Ressourcen
Normalerweise habe ich ein Kupfer oder ein Gemälde oder ein Foto eines Originals im Kopf und denke: Um ein Kleid nachzuarbeiten, muss ich nach diesem oder jenen Stoff suchen. In einem solchen Fall gehe ich nicht von dem aus, was ich bereits habe, sondern mein Nähprojekt kurbelt die Wirtschaft an. Erst der Corona Lock down führt zu einem anderen Ansatz: Du willst nähen? Du kannst keinen neuen Stoff kaufen. Dann näh, mit dem, was Du bereits hast. Und das bedeutet für die Nähquarantäne: Recycling. Upcycling. Du kannst nicht für Damen nähen, mit denen Du keine Anproben durchführen kannst. Dann näh für Deine beiden Nachbarinnen.
Von der Dinkelschnürbrust von 1790 zum Chittelbrüstli von 1820
Über meine Arbeit am Berner Tschöpli lernte ich Sander Kunz kennen. Dieser stellt sein Leben in den Dienst von Klosterarbeiten. Er war es, der mir die Anschaffung von Julie Heierlis Publikationen zu den «Volkstrachten der Schweiz» ans Herz legte. Julie Heierlis Werk ist für jede Seele, die sich für die Geschichte der Schweizer Trachten interessiert, eine Offenbarung. Und die ihren Werken beigefügten Schnittmusterbögen lassen die Schneiderherzen höher schlagen. Doch halten wir für die uneingeweihte Leserschaft erst einmal fest, woraus eine Berner Tracht um 1820 überhaupt besteht:
Zuerst einmal: Was die ikonographische Grundlage der Berner Trachten um 1800 anbelangt, so ist diese relativ breit. Julie Heierli hat sich diesbezüglich bemüht, auf der Grundlage von originalen Trachten aus der Zeit herauszuarbeiten, was historischer Praxis und was künstlerischer Überhöhung entsprach, respektive was dem Marketing der nach 1800 aufkeimenden Schweizer Tourismusbranche geschuldet ist. Die Berner Tracht[1] des frühen 19. Jahrhunderts besteht aus folgenden Bestandteilen:
1. Hemd
In ihrer Publikation präzisiert Heierli, dass das «oberste Stück der Brust des Hemdes, das Halsbrisli» im Gegensatz zum Rest des Hemdes, das aus «Chudertuch» bestand, aus «feinem flächsernen Tuch» gefertigt wurde.[2] Sie erwähnt jedoch nicht, ob das Ansetzen eines separaten «Halsbrislis» auch schon im 18. und frühen 19. Jahrhundert gängig war oder ob diese Verarbeitung auf die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts beschränkt bleibt. Was das Hemdmaterial für die Zeit um 1820 anbelangt, erwähnt die Autorin jedenfalls, dass laut Niklaus König für die Hemden der Berner Kindermädchen, die stets in Tracht einhergingen, «percale fine» verarbeitet wurde [3]. Bei meiner Version des Berner Trachtenhemds habe ich mich nicht an Heierli orientiert, sondern einerseits an einem Berner Original, das sich in Besitz von Alessandra Reeves befindet. Dieses folgt einem einfacheren Verarbeitungsprinzip, insofern es lediglich aus sechs Schnitteilen besteht. Andererseits hatte ich 90 cm breites hundertjähriges französisches Linon vorrätig und wollte dieses seiner Feinheit wegen für das Hemd hernehmen. Ausserdem erlaubte es dessen schmale Webbreite, die meisten Nähte mit überwindlichen Stichen über die Webkanten vorzunehmen. Nur die Geren habe ich mit Kappnähten eingefügt. Die sog. Brisen – Falten – um Hals und Ärmel habe ich ebenfalls mit überwindlichen Stichen an das im geraden Fadenlauf zugeschnittene Hals und Ärmelband fixiert und dieses danach mit einem Saumstich fixiert.
2. Wessli
Das Wessli ersetzt im frühen 19. Jahrhundert den sog. Vorstecker[4]. Das Grundprinzip und die Funktion der beiden giletartigen Kleidungsstücke sind dieselben: Sie bestehen aus zwei Rückenteilen und aus zwei mit schwarzem Samtband eingefassten und bestickten Vorderteilen. Beide geben der weiblichen Brust den nötigen Halt. Die Abbildung eines Originals zeigt, dass das Wessli im Gegensatz zum Vorstecker des 18. Jh. nicht zwingend in der VM, sondern entlang der Seitennaht unter dem Arm mit Haken und Ösen geschlossen wurde[5]. Heierlis Schnittmusterbogen enthält nur den Schnitt für das Wesslivorderteil, weshalb ich das Rückenstück analog zu jenem des Vorsteckers aus dem 18. Jahrhundert und auf der Grundlage der Fotografien der beiden Originale rekonstruiert habe[6]. Dieser Umstand ist jedoch deshalb bedauerlich, weil unklar bleibt, ob der Originalrücken des 1820er Wesslis leicht breiter gearbeitet war als jener des Chittelbrüstlis. Wäre dies der Fall, so müsste nämlich das Wessli mit bunten Seidenbändern eingefasst werden, damit diese sich unter dem mit Samt eingefassten Chittelbrüstli als zusätzliches Zierelement der Tracht abheben.[7] Die erhaltenen Wessli aus dem frühen 19. Jahrhundert wurden mit bunten Chrälleli bestickt[8]. Für meine Wesslirekonstruktion musste ich jedoch auf antikes Seidengarn aus der Schweiz und Frankreich zurückgreifen, ein Geschenk der Solothurner Schneiderin Margrit Vögtli. Einesteils, weil ich zu Hause über diese geschenkten Seidenstickgarne verfügte, andernteils, weil sich weder bei Heierli noch anderswo farbige Aufnahmen von Chrällelistickerei in passender Auflösung zur Rekonstruktionsarbeit finden und schliesslich, weil, wie Sander Kunz von Klosterarbeit meint, es sehr schwierig ist, im heutigen Europa überhaupt Stickperlen von historisch adäquater Qualität zu finden. Was das Stickmuster anbelangt, so habe ich mich vom bei Heierli abgebildeten Original von 1810 inspirieren lassen[9].
3. Chittelbrüstli
Im Gegensatz zum 18. Jahrhundert wurde zu Anfang des 19. Jahrhunderts der Kittel – der Rockteil – direkt ans Brüstli – das Mieder – angenäht[10]. Welche Faltentechnik hierbei Verwendung fand, erwähnt Heierli jedoch nicht. Vielleicht war bei dem von ihr untersuchten Original der Kittel nicht mehr vorhanden. Die Ikonographie aus dem frühen 19. Jahrhundert zeigt uns jedoch, dass die Falten aus einfachen Messerfalten bestanden. Laut Heierli fanden bei der Herstellung der Brüstli im Gegensatz zu den Miedern des 18. Jahrhunderts weder «Fischbein» noch «Meerrohr» Verwendung[11]. In der Regel bestanden sie in Stadtnähe aus schwarzem Tuch und waren mit schwarzem Samt eingefasst[12]. Obschon sie fortan keinerlei Funktion mehr hatten, wurden weiterhin Miederhaften als Schmuck verwendet[13]. Briesnestel – dies belegt auch die Ikonographie – fanden hingegen keine Verwendung mehr[14]. Der Kittel selber bestand in der Regel aus «weichem hellblauen Wollenstoff» und wies den für Berner Trachten typischen roten Vorstoss am Rocksaum auf[15]. Die von Heierli erwähnten Stoffe hatte ich während der Coronapandemie nicht zur Hand. Also besann ich mich auf die Ressourcen, die ich hatte. Das Marie-Antoinette Trauerkleid aus schwarzem Seidentaft wird nicht mehr gebraucht, auch lag noch ein Meter schwarzer Seidenbrokat in einer Schublade und irgendwo in einer Schachtel gab es noch einen 75 cm langen und ebenso hohen Streifen roten Seidendupion, der sich für den roten Rocksaum verwenden liess. Man mag sich über die Verwendung von so viel Seide für eine Berner Tracht vielleicht wundern. Allerdings dokumentiert zum einen Heierli selber ein Original, das aus einem Mieder «aus gemustertem violettblauem Seidensammet», einem Kittel aus «violetter Schillerseide» und einer Seidenschürze besteht[16]. Zum anderen erwähnt die Trachtenforscherin, dass die Trachten nicht bloss von Bäuerinnen, sondern auch von Bürgerinnen kleinerer Städte getragen wurde[17].
Aufgrund der in Emanuel Friedlis «Bärndeutsch als Spiegel bernischen Volkstums» enthaltenen Abbildung einer Berner Tracht[18] erlaubte ich mir, das Chittelbrüstli-Futter entlang der HM mit etwas Kabelbinde zu verstärken. Dass der Oberstoff jedoch auch eine Naht im Rücken aufweisen muss, darüber findet sich in der Ikonographie keinen zwingenden Hinweis. Es scheint beide Varianten gegeben zu haben. Ich habe aufgrund der Kostbarkeit des Brokats auf eine Naht verzichtet und den Stoff in der Bruchkante zugeschnitten. Der Rock des Trauerkleids war mit über 4 Meter Breite etwas gar weit. Also trennte ich das Frontpannel heraus. Das war praktisch, weil sich dadurch eine symmetrische Anordnung der Pannele ergab. Ausserdem ist der Kittel von der Taille bis zum Oberschenkel im Verlauf der VM offen. Die neu zu erstellende Naht bedeutete also wenig Arbeit. Die gelbe Blende des Trauerrocks brauchte ich nur entlang des Saums aufzutrennen, damit ich den roten Seidenvorstoss dazwischenschieben konnte. Dieses Vorgehen entspricht bestimmt nicht der Praxis des frühen 19. Jahrhunderts, jedoch der ressourcenfokussierten Logik von Recycling. Da der Rockumfang auch nach Heraustrennen des Frontpannels über drei Meter umfasste, erlaubte ich mir beim Berner Kittel eine tiefe Kellerfalte im Rücken und viele tiefe, feine Fältchen, die sich zur Flanke hin verbreitern und flacher werden. Dieses Vorgehen schien mir ratsam, weil die Schürze in der Regel nur gerade den Kittelrücken freilässt und das Rockvolumen also eher im Rücken verteilt sein sollte.
4. Schürze
Laut Heierli bestand die Schürze in der Regel aus hellgestreiftem «glandriertem» oder «kalanderiertem» Leinen[19]. Solches hatte ich nicht vorrätig und die zwei originalen Berner Schürzen aus meinem Fundus waren für die hohe Taille der 1820er Tracht viel zu kurz. Allerdings schenkte mir Margrit Vögtli einen hundert Jahre alten rot-weiss gestreiften Baumwollstoff. Dieser sollte den Ernst des schwarzen Brokats, des schwarzen Tafts und des schwarzen Samts etwas auflockern. Beim Zuschneiden unterlief mir allerdings ein ärgerlicher Fehler. Im Irrtum, ich müsse aus dem Stoffstück drei Pannele herauskriegen (warum? Nachmessen wäre ja auch etwas, schliesslich ist eine Berner Schürze 150 cm breit!) fielen die einzelnen Stücke für den langen Kittel zu kurz aus. Da dies bei der Anprobe der fertigen Schürze nicht nur der Trägerin Madame Deuxchamps missfiel, sondern auch mir, und ich zudem feststellte, dass der Schürzensaum sich von der VM ausgehend nach oben hin auf hässliche Weise verkürzte, habe ich mich kurzerhand zu einer Reparatur entschieden. Das eine meiner Berner Originale weist am Taillenbund ein angesetztes, von der VM nach aussen hin sich verbreiterndes Stück auf. Dies war laut Heierli wohl für Berner Schürzen typisch, da nur so erreicht wird, dass der Schürzensaum um den Kittelsaum herum gleich lang ist[20]. Folglich habe ich – wenn auch ein breiteres Stück als beim Original – am oberen Ende der Schürze angesetzt und somit die erforderliche Schürzenlänge im zweiten Anlauf geschafft.
5. Göller, Halsband oder Würgetli
Heierlis Göllerschnitt musste ich bei der Anprobe mit Madame Deuxchamps um den Hals herum etwas ausschneiden. Zwar heisst der Kragen, der im Gegensatz zur heute getragenen Variante nicht auf der Schulter liegt, sondern den Hals wie ein Halseisen umfasst, zu Anfang des 19. Jahrhunderts zurecht auch Würgetli[21]. Aber die Trägerin wirklich würgen und am Atmen hindern soll diese Form des Halsbandes[22] dennoch nicht.
Die Einfassung des Göllers habe ich mit schwarzem, im schrägen Fadenlauf zugeschnittenen hundertjährigem Seidensamt vorgenommen. Dieser kostbare Stoff war ein Geschenk von Frau Teresa Stöcklin, ehemals Hutmacherin in Basel.
6. Haube
Laut Heierli kommen für die Zeit um 1820 grundsätzlich zwei Typen von Hauben in Frage, wobei beide innerhalb ein und derselben Familie getragen werden konnten und keinerlei Standesunterschiede markierten[23]. So gab es sowohl die steife, geklöppelte Rosshaarhaube als auch die Haube mit breiten, weich aufliegenden Klöppelspitzen. In jedem Fall waren diese Hauben schwarz. Originale aus der Zeit um 1820 dokumentiert Heierli in ihrem Werk nicht, ich hatte allerdings das Glück, von Frau Silvia Tempel zwei Berner Aargauer Rosshaarhauben erstehen zu können. Diese kleinen Kunstwerke stammen laut Frau Tempel aus der Hand der Aargauerin Ruth Affolter, welche ihre Trachtenschürzen aus selbst angebautem Flachs zu weben pflegte.
7. Busennädeli und Bhänk
Damit das über der Brust offene Hemd auch züchtig geschlossen blieb, fand bei vielen Frauen ein sog. «Busennädeli» Verwendung[24]. Dies zeigt die Abbildung das Bäreliseli[25]. Dass dieses Schmuckstück jedoch nicht eine Pflicht war, zeigen die Gemälde der Mutter und ihrer Tochter aus dem Berner Aargau. Was hingegen auf keinen Fall fehlen darf, ist das silberne Ghänk mit seinen vier filigranen Häft und seinen zwei Pämpeln. Im frühen 19. Jahrhundert reichen die Pämpel im Gegensatz zum 18. Jahrhundert teilweise schon über die Taille. In jedem Fall jedoch bestehen die Ketten im Gegensatz zu heute aus nicht mehr als drei Strängen[26]. Ich bin sehr glücklich, dass ich Frau Silvia Tempels Berneraargauer Bhänk erben durfte und für meine künftigen Berner Trachten verwenden darf: die Häft und Pämpel haben eine historisch passende Grösse, ein feines Design und die Ketten bestehen aus grossen Ringen.
8. Samtpantöffeli
Die Berner Kindermädchen trugen in ihrer Tracht entsprechend der bürgerlichen Mode um 1820 absatzlose Schuhe. Offenbar fand hierbei Samt als Oberstoff Verwendung[27]. Heute würde deren Rekonstruktion jedoch wohl mehr kosten als die Anschaffung von Rosshaarhaube und Ghänk zusammen. Deshalb müssen für die Präsentation der 1820er Berner Tracht einfache schwarze Ballerinen ausreichen.
[1] In Abgrenzung zur Oberländertracht, Haslitracht und Guggisberger Tracht, die ebenfalls zu den Trachten des Kantons Bern zählen. Siehe HEIERLI, Julie, Die Volkstrachten von Bern, Freiburg, & Wallis, Eugen Rentsch Verlag, Erlenbach-Zürich,1928 , S. 31. Im Folgenden Sigel H. [2] H, S. 66 – 67. [3] H, S. 45. [4] H. S. 69. [5] Vgl. H, Bilderteil, Abbildungen 13, 14, 73 und 104. [6] Ebd. [7] H, S. 48 und 70. Dass jedoch nicht zwingend jeder Wesslirücken unter der Chittelbrust sichtbar war, legt die Ikonographie nahe. [8] Siehe. H, S. 45, 48, 70. Siehe auch Bildtafel 8 und Bilderteil, Abbildungen 73 – 77. [9] H, Bilderteil, Abbildungen 73. [10] H, S. 43. [11] Ebd. [12] H, S. 44. [13] Ebd. [14] Ebd. [15] Ebd. [16] H, S. 48. [17] «Die sogenannte Bernertracht aber wurde in ihrem grossen Verbreitungsbezirk, ausser in der Stadt Bern, von allen , auch von den nicht bäuerischen Bewohnerinnen der Dörfer und der kleinen Städte, als alleiniges Eigenkleid getragen», H, S. 31. [18] FRIEDLI, Emanuel: Bärndeutsch als Spiegel bernischen Volkstums, Sechster Band: Aarwangen, A. Franke, Bern, 1925, S. 565. [19] H, S. 46, S. 72. [20] H, S. 72. [21] Ebd. [22] H, S. 49. [23] H, S. 47 – 48. [24] H, S. 46. [25] Siehe Bildtafel 6. [26] Vgl. H, Bildtafelen, 3, 5, 6 und 7, Bilderteile, Abbildungen 12 – 31. [27] H, S. 44.
Diese Tracht und das Handwerk, die Kunst, sind wunderschön. Man kann das nur bewundern. Liebe Grüsse von Regula Bartholdi